Emotionales Interview von Elisabeth Richter mit Yosief Mulugeta
Erst Anfang dieses Jahres war die ‚Initiative Münsterland für unbegleitete Kinder aus dem Lager Moria mit etwa 30 Aktiven ins Leben gerufen worden. Die Initiative unterstützt den Verein „Solingen hilft“ und dessen Begründer, den Arzt Dr. Christoph Zenses, der regelmäßig im Lager Moria im Einsatz ist, mit Spendengeldern (vorwiegend für Medikamente, Trinkwasseraufbereitung, Schulbesuch) unterstützt. „Der Ort Moria auf der griechischen Insel Lesbos steht nicht erst mit dem Großbrand des größten Flüchtlingslagers Europas Anfang September für einen Tiefpunkt europäischer Flüchtlingspolitik, an dem jegliche Menschenwürde auf der Strecke bleibt.“ sind die Initiativmitglieder überzeugt.
Am 18. August 2020 organisierte die Initiative in der Stiftskirche einen Kulturabend unter der Überschrift „Lyrik – Musik –Information“. Während dieser Veranstaltung berichtete Yosief Mulugeta, der mit gerade einmal 15 Jahren „auf eigene Faust“ aus seiner Heimat Eritrea nach Deutschland geflüchtet ist und nun seit fast 4 Jahren in Beelen lebt, in einem Interview mit Elisabeth Richter über die gefährliche Flucht über Libyen und das Mittelmeer bis nach Europa.

Ich bin Yosief Mulugeta und bin 19 Jahre alt.
Yosief Mulugeta
Ich habe noch 7 Schwestern und 2 Brüder und
bin auf einem Bauernhof in Eritrea aufgewachsen.
Mit 15 Jahren habe ich meine Heimat Eritrea
verlassen und lebe seit fast 3 ½ Jahren in Beelen.
Deine Heimat Eritrea ist ein landschaftlich schönes Land mit großer kultureller Vielfalt und einem immensen Entwicklungspotential, das leider von der Regierung seit dem Krieg mit Äthiopien überhaupt nicht mehr genutzt wird.
Das Land gehört zu den repressivsten Ländern der Welt. Eine ganze Generation junger Eritreer ergreift die Flucht und flieht vor Sklaverei, Gefangenschaft und Folter.
Warum bist Du geflohen?
Nachdem ich mit 14 Jahren aus familiären Gründen den Schulbesuch unterbrechen musste, hat man mir verboten, die Schule weiter zu besuchen. Ich wollte jedoch am liebsten studieren und einen Beruf erlernen.
Für viele junge Menschen ist der unbefristete Militärdienst (ab dem 17./18. Lebensjahr) der Hauptgrund für eine Flucht. Du hast keine Freiheit, keine Meinungsfreiheit. Es gibt einfach keine Hoffnung.
Du hast in der Nacht Dein Elternhaus verlassen und bist zu Fuß nach Äthiopien geflüchtet. Von hier aus ging es teilweise mit dem Motorrad, mit dem Auto und dem Pickup weiter bis in den Sudan. Anschließend bist Du mit dem LKW und dem Pick Up nach Libyen geflohen. Von hier aus bist Du mit einem Schlauchboot – vollbepackt mit Menschen – nach Europa gelangt. Von Italien ging es z. T. zu Fuß und mit der Bahn nach Frankreich. Die Strecke nach Deutschland hast Du mit einem Taxi zurückgelegt.
Welche Eindrücke hast Du von Deiner Flucht?
Die Flucht war sehr schrecklich und ich hatte keine Vorstellung, wie schwer die Flucht sein wird. Es gibt viele Menschen, die gekämpft haben, Eritrea zu verlassen und von Libyen zurück nach Eritrea geschickt wurden.
Es gibt viele Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind.
Die Flucht der unbegleiteten minderjährigen Flüchtenden nach Europa dauert oft mehrere Jahre. Viele Menschen kommen nie an ihr erhofftes Ziel an und hängen über Jahre fest. Oft werden sie selbst zu Schleppern, um ihre Familie zu ernähren.
Wie lange hat Deine Flucht gedauert?
Meine Flucht dauerte trotz vieler Schwierigkeiten ein gutes Jahr, von Ende 2015 bis Januar 2017.
Viele Menschen sind oft mehrere Jahre unterwegs oder hängen fest. Oft werden sie selbst zu Schleppern, um zu überleben.
Libyen ist die Hölle. Viele Flüchtlinge erleben hier Gewalt, Vergewaltigung und Folter durch Menschenhändler. Ohne Menschenschmuggler gelingt kaum eine Flucht.

Schlepper besorgen gefälschte Papiere und bringen die Menschen damit in andere Länder. Sie verstecken sie hinter Gemüse, Früchten, Reissäcken oder was immer die Fahrzeuge geladen haben. Sie organisieren Boote, die meist alt, viel zu klein oder überhaupt nicht seetauglich sind, und bringen die Flüchtlinge über das Mittelmeer.

Der Tod schreckt kaum einen ab. Für die Schlepper zählt allein die Profitmaximierung. Die Gefahr für Leib und Seele der Geflüchteten nehmen die Schlepperbanden in Kauf.
Auch Du hast während der Flucht viel Geld für Schlepper zahlen müssen. Magst Du erzählen, wie das Geschäft funktioniert?
Mein Onkel hat mich finanziell unterstützt. Ohne diese Hilfe und ohne Schlepper wäre ich nicht hier.
Flüchtlinge, die Schlepper nutzen oder von ihnen angeworben werden, zahlen in dem Land, von dem sie starten, die Gebühr für den Transport an einen Hawala-Banker und bekommen dafür einen bestimmten Code. In den Ziel- bzw. Durchgangsländern gibt es andere Hawala-Banker, die für den Betrag auszahlungsberechtigt bzw. verpflichtet sind, wenn ihnen jemand den Code bringt. Alle, die an dem illegalen Transport beteiligt sind, bekommen dieses Kennwort ebenfalls und können sich an den jeweiligen Banker wenden, um ihren Anteil an dem Transport zu bekommen. Die Hawala-Banker rechnen untereinander ab und behalten natürlich eine Provision ein.
Auch Du hast immer wieder ums Überleben gekämpft. Es gab Momente, die Dir alle Hoffnung nahmen, Momente, die Dich fast zum Aufgeben bewegt haben.
Welche Erlebnisse waren für Dich die schlimmsten?
Besonders schlimm war es, heimlich das Elternhaus zu verlassen und die Flucht zu Fuß in der Nacht – nur mit einem Rucksack – anzutreten. In der Wüste kämpfst Du um’s Überleben, hast Angst vor dem Verdursten. In den Lagern sorgt die schlechte und unzureichende Ernährung oft für Erkrankungen.
Auch die Überfahrt über das Mittelmeer ist so gefährlich. In einer solchen Situation liegen Hoffnung und Verzweiflung extrem nahe beieinander. Du willst es einerseits unbedingt schaffen und fühlst dich andererseits so verloren mitten im Meer. Du sagst: „Es ist reine Glückssache, wer die Reise überlebt.“
Die seeuntauglichen Boote sind meistens völlig überfüllt. Wie gesund oder stark du bist, spielt keine Rolle. Ich habe viele Freunde auf dem Meer verloren. Und trotzdem besteigst du dieses überfüllte Plastikboot. Denn es ist deine einzige Chance.
In der provisorischen Zeltstadt, dem sogenannten „Dschungel von Calais“ haben Tausende von Flüchtlingen gehaust, die ihre Heimat verlassen haben, weil sie die ständige Unsicherheit, ob sie und ihre Familie den Tag überleben, nicht mehr ertragen.
Wie hast Du die Zeit in der Zeltstadt in Calais erlebt?
Es war eine schreckliche Zeit. Das Lager war völlig überfüllt, dreckig, nass und kalt. Du willst nur eins: Weg von Calais – an Bord eines Lastwagens möglichst schnell raus aus dem Lager.
Wie bist Du dann nach Deutschland gekommen?
Über einen Makler habe ich ein Taxi für 60 € nach Köln bekommen. Da ich jünger als 18 Jahre war, konnte ich für kurze Zeit mit einem Freund in einem Wohnheim in Dortmund unterkommen.
Drei Wochen später, am 19. Februar 2017, kam ich dann nach Beelen ins Haus ISAI, eine Unterkunft für unbegleitete, jugendliche Geflüchtete. Bereits zwei Tage später besuchte ich einen Deutschkurs und bekam eine dreijährige Aufenthaltsgenehmigung.
Heimat ist nicht nur da, wo ich geboren wurde, sondern, wo ich mich sicher und wohl fühlen kann. Erinnerungen an die Familie, an geliebte Menschen und alles was verloren ist, sind allgegenwärtig. Immer wieder lassen Dich Deine Gedanken an die Heimat an die kleinen Dinge erinnern, die Du zurückgelassen hast. Dinge des alltäglichen Lebens, die Du vermisst, weil sie einen ganz besonderen Wert für Dich haben.
Wie geht es Dir jetzt in Deutschland?
Als Geflüchteter kämpfst Du immer um das eigene Überleben. Du wirst immer wieder enttäuscht, hast kein Vertrauen zu den Menschen. Man erlebt aber auch viele schöne Dinge. Während der Flucht und vor allem in Beelen habe ich viele gute und hilfsbereite Menschen kennengelernt. Sie haben mir geholfen, meine Ziele ein Stück zu verwirklichen. Das hat mein Selbstbewusstsein gestärkt. Auch heute werde ich immer noch von der Familie aus Beelen unterstützt, die seit meiner Ankunft in Beelen immer für mich da ist.
Seit einem halben Jahr lebe ich nun in einer kleinen Wohnung in Beelen. Am 1. August habe ich meine Ausbildung zum Land- und Maschinenmechatroniker in Beelen begonnen. Einen Führerschein habe ich jetzt auch und mein größter Wunsch: einmal zu studieren!

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